Religion, Theologie

Einstmals die „Königin“ der Wissenschaften, wird der Theologie, der „Lehre von Gott“ heute der Charakter der Wissenschaftlichkeit wohl am meisten (mehr noch als der Jurisprudenz, die ihrerseits bereits wenigstens in diesem Namen eine gewisse Selbstbescheidung anzeigt, der noch der wohleingeführte Aspekt des Handwerklichen zur Seite zu stellen bliebe) überhaupt bestritten; gewiß: teils durch eigene Schuld (weil solcher Anspruch in eigener Sache diskreditiert wurde), und andererseits auch mit einer gewissen Notwendigkeit (insofern ein solcher Anspruch angesichts des Gegenstandes auch gar nicht erhoben sein soll).

Und dennoch: Nicht allein ist die fortlaufende Formulierung des eigenen Dogmas über, was die christliche Religion und Kirche angeht, nunmehr zwei Jahrtausende hinweg zum einen unabweisbar Gegenstand des historischen Interesses. Andererseits bringt dieser nähere Gegenstand (wie andere auch) allemal eine sachliche Widerständigkeit auf dagegen, sich auf ein Zusammenwirken äußerer Einflüsse mit bestenfalls noch innerer Fortentwicklungslogik und –notwendigkeit, und damit schließlich auf Belanglosigkeit festlegen zu lassen: und behauptet sich so als das legitime Objekt einer eigenen Wissenschaft, die sich selbst und der Welt Rechenschaft über Methode und Zugriff auch durchaus nicht überhaupt schuldig bleibt.

In der hermeneutischen Bemühung – der Kunst des Verstehens fremder Texte – hat sich zunächst auch gerade die Theologie zu solcher Vergewisserung genötigt gesehen: ist es ihr doch wegen des angenommenen Offenbarungs-Charakters wenn nicht der Buchstaben, so doch der Worte (oder: des Wortes) keinesfalls möglich, Leser und Hörer mit dem Autor der in Rede stehenden Botschaft in eins zu setzen. Selbst die Annahme einer sozusagen ersten Naivität im Umgang mit „Offenbarung“ geht andererseits schon insofern fehl, als zu keinem Zeitpunkt ein in diesem Sinne „heiliger“ Text vorgelegen hat, vielmehr seinerseits nicht allein „menschlichen“, sondern immer auch problembewußten Charakter trägt.

Insofern wird Theologie – was man ihr heute auch nicht erst zu „erzählen“ braucht – zuvörderst geradezu die fortlaufende Rückversicherung gegen den zwar geschichtlich nicht wegzustreichenden, „wegzudenkenden“, aber doch auch mit Einsicht nicht weiter fortsetzbaren Mißbrauch im Umgang mit den maßgeblichen Texten (denen man vorreformatorisch einen mehrfachen Schriftsinn, bis hin zur erklärten Beliebigkeit, unterlegt hat) bei gewahrter Verbindlichkeit des Bezuges auf das in ihnen gesagte und durch Überlieferung geformte Wort sein müssen (kommt also selbst ohne Religions- und Dogmenkritik nicht aus).

Die dann wieder selbst dogmatische (damit in gewisser Weise der Jurisprudenz parallel laufende) Vorgehensweise auch einer wissenschaftlichen Theologie arbeitet – soweit sie sich eben nicht auf „neutrale“ Religionswissenschaft beschränken will – gewisse Systeme des Glaubens aus, die zugleich als Weltbild und Selbstanschauung des Menschen gelten können. Die Bedingtheit ihrer Geltung durch die Unmittelbarkeit eines „persönlichen“ Glaubens kann in wissenschaftlicher Hinsicht wohl schwerlich anders denn durch eine Einordnung ebenso wieder des jeweils eigenen Ansetzens in die offenbar prinzipiell unabgeschlossene historische Entfaltung des Kerygmas (der „Botschaft“) aufgefangen werden.

Werden diese Perspektiven zusammengebracht, bleibt Religion allemal als ein aufschlußreiches menschliches Projekt bestehen, das andererseits aber – im Sinne reformatorischer Lehre – auch noch immer offengehalten wäre für die Beantwortung durch einen Glauben, der seiner Verbindlichkeit nach nicht mehr selbst zur Religion gehört. Es dürfte allerdings zur Redlichkeit theoretischer Reflexion gehören, solche Steigerungen für die Gegenwart gleichfalls als jeweils nächsten (dogmatischen) Ausweg aus einer Grundlagenkrise aufzufassen. Jede Aussage kann schließlich noch einmal „eingeklammert“ werden, ohne damit gedanklich über den Stand von Kautelen, Rückversicherungen hinauszugelangen.

Andererseits sollte mit dieser Schematisierung auch bereits die Ausgangsposition für den – nicht zuletzt auch von Rechts wegen auszumachenden – Umgang mit „fremden“ Religionen (wie überhaupt „Kulturen“) gewonnen sein. Denn im Bereich der Religion, des jeweils geteilten Selbstverständnisses beschränkt sich ein „Wahrheitsanspruch“ strikt auf die jeweils eigene Perspektive. Zugleich aber steht er nun in der Tat in einem funktionellen, kompensatorischen Zusammenhang mit der jeweils am Leben zu tragenden Last, als die von dorther (sei es nun für die Welt, oder aber auch geradezu bloß noch gegen sie, in radikaler, letztlich menschenfeindliche Verneinung) zu gewinnende Hoffnung.

So weit also eine Mitverantwortung für die gesellschaftlichen Verhältnisse reicht, so weit muß schon deshalb die aus eigener Sicht etwa „wertwidrige“ Religion ertragen, und für sich gelten gelassen werden. Ob die „islamistische“ Bewegung sich nun aus mittelalterlichen Quellen oder aber aus dem Elend der Moderne (bzw. „Postmoderne“) speist, wäre insofern ein leicht müßiger Streit: war doch noch stets die „Rückbesinnung“ auf vergangene, verlorene Zeiten auch Antwort auf eine Gegenwart, mit der man sich – ohne daß wesentlich Neues in Sicht käme – nicht abfinden möchte.

Mit dem Titel der „Toleranz“ würde das Thema dann aber womöglich doch immer schon verfehlt: insofern es eben gar nicht maßgeblich um Abstand oder gar Gefälle (und die entsprechende Gleichgültigkeit bis Verächtlichkeit), vielmehr die Einsicht in eine Zusammengehörigkeit und Zugehörigkeit zu tun wäre, die in der einen Welt und Weltgesellschaft Glück, Elend wie allgemein Ausbreitung von „Sinnverlust“ und „Sinnlosigkeit“ gleichermaßen betrifft, und nurmehr von den verschiedenen Seiten her freilich auch höchst unterschiedlich zu beleuchten, und auch aufzugreifen sein kann.

So werden wir uns auch überhaupt von hierher auf die „Glaubens“-Abhängigkeit sachlicher Aussagen verweisen lassen können, und also stets auf die je eigene Sache und Angelegenheit: zu der ebenso die „Rahmenbedingungen“ „vor Ort“ jeweils gehören wie andererseits die persönliche, wenigstens der Möglichkeit nach unvertretbar eigene Einstellung in sie und zu ihnen. Damit wird eben keineswegs alles beliebig; es handelt sich nur darum, die in menschlicher Freiheit hergestellten Zusammenhänge (wenn anders „Strukturen“ nicht schon das Letzte sein sollten) nicht bloß auf sei es „objektive“ Prinzipien, sei es „subjektive“ Ansprüche zu reduzieren.

Im so sich ergebenden Zwischenraum freilich gewinnen gerade religiöse „Vorstellungen“ und „Vorstellungswelten“ eine hohe Bedeutsamkeit: nicht bloß „positiv“ als Ausmalung des Wünschbaren, sondern, wenn auch damit regelmäßig im Zusammenhang wechselseitigen Bestimmens stehend, als Projektion zugleich kritisch-feindseliger „Zwangsvorstellungen“, die gewißlich ihrerseits (neben strikt rechtlicher Beantwortung, wo sie zur verletzenden Tat werden, versteht sich) ebenso dringend der Kritik bedürfen, wie sie dann immerhin höchst aufschlußreich für die Stellung und Einstellung des Menschen in seiner oder vor der dann fremden Welt bleiben (resp. es im Grunde erst so werden).

Religion kann so weder für die „Gläubigen“ selbst (gleichgültig, wie „offen“ oder „engstirnig“ sie ihre Sache ansehen möchten) sich auf die jeweils gerade von ihnen geteilte Überzeugung beschränken, noch andererseits für die ihr überhaupt fremd Gegenüberstehenden (um von den sozusagen militanten „Atheisten“ nicht zu reden, die schließlich bloß ihren „Unglauben“ zur Angelegenheit eines Glaubens gemacht haben) auf eine überhaupt unbedeutsame Affäre. Schon gar nicht aber sollte sie unter einem irgendwie „humanistischen“ Standpunkt bloß noch auf ihre politischen Implikationen hin und damit außerhalb ihrer eigenen Perspektive moralisch-heteronome Verwendung finden.

Freilich tun – unbeschadet aller „Renaissancen des Religiösen“ – doch wohl die „westlichen“ Bekenntnisse durchaus das Ihre dazu. Mit Bonhoeffer die Religion für den Glauben und die Werke der Liebe preiszugeben wäre Selbstbescheidung; ihr Ziel und Anliegen aber überhaupt in menschliche Meinung und „Markt der Möglichkeiten“ zu überführen, hingegen geradezu Vermessenheit: eben dieselbe, derer auch noch immer ein Roma locuta, causa finita sich befleißigen möchte. Gerade mit solchem Befund aber sollte die von den Kirchen ex officio zu vertretende Sache um so weniger bloß ihnen, wo ihr Streiten womöglich doch nur um einen liberalen oder aber einen konservativen Fundamentalismus geht, überlassen bleiben.

Der Eindruck ist: daß Religion allgemein zugleich zu wenig ernst und wieder zu ernst genommen wird. Zu ernst: wo es um den eigenen Besitz geht, der dann auf der Linie „ethno-logischer“ Wertungen ebenso unverrückbar feststehen wie geradezu neu erfunden sein kann; zu wenig ernst: insofern das beständige fraglich-Werden von Wahrheiten und überhaupt Wahrheit kaum noch wirklich als ein Desiderat genommen, ja auf- und angenommen wird, demzufolge die Umschau auf dem sprichwörtlichen „weiten Feld“ zwar die Dringlichkeit von und das Bedürfnis nach Orientierung zu bekräftigen und auch konkretisieren vermag: ohne daß damit aber doch aus dem Stande des Mangels, der Krise und der versperrten Wege bloß mit „Selbstbewußtsein“ herauszukommen wäre.

Eine neue gesellschaftliche Perspektive zu gewinnen, ist kaum mehr Aufgabe von Religion und Theologie. Ob nun entschieden (katholisch) welt-zugewandt, oder aber (protestantisch) in der Abwendung zu ihr befreit: Die Wiedergewinnung politischer Handlungsfähigkeit gegenüber systemischen Zwängen läßt sich damit nicht mehr als postulieren (womit dann leider allzu leicht auch „Legitimation durch Realitätsverleugnung“ sich verbindet). Statt der Stellungnahme zu beliebigen „Themen“ immerhin dies Postulat als solches, und zwar zugleich befreit von personalisierten Schuldzuweisungen moralischer Provenienz und damit auch weniger selbstgerecht, zu vertreten, wäre demgegenüber gewiß schon ein Fortschritt und Beitrag.

Wo nun die „Theologien“ der Vergangenheit in ihrer Abfolge, zumal auch mit je und je guten Gründen, auf den heutigen Punkt wortreicher Sprachlosigkeit hingeführt haben, kann eben doch die Befassung mit dem auch in dieser Geistesgeschichte so überreich ausgebreiteten, die unterschiedlichen Möglichkeiten nach allen Seiten hin erprobenden Material um so weniger entbehrt werden. Noch aus jüngster Zeit liegen gewiß Texte auf der „Höhe“ der Problematik vor; sie haben jedoch offenbar weder den Standpunkt von Kirche und Gemeinde (in der weiter alles am einzelnen „Seelsorger“, an seiner „Persönlichkeit“ zu hängen scheint, und „Trost“ ganz nach Belieben „gespendet“ wird) noch auch ihre Wirksamkeit nach „außen“ hinreichend deutlich zu prägen vermocht.

Hier aber ist, nach Lage der Dinge, jede relevante Stimme gefragt und gefordert. Von Religion und Glauben her kann allerdings eine „Einmischung“ in das gängige Konzert der Meinungen nicht gut, nur in bereits erfolgter Preisgabe des Standpunktes stattfinden. Deshalb wird es der geschichtsbewußten Rückbesinnung bedürfen auf den spezifischen Beitrag, der – allerseits! – gerade von ihnen zu erwarten wäre. „Wertvorstellungen“ gibt es schon mehr als genug; auf den Horizont ihrer Fundierung und also Überwindung käme es demgegenüber an. Wovon auch immer Theologie zu reden haben möchte: Sie wird am Ende doch weiter neben (und im Grunde wohl hinter) die befreiende Tat das wirklich befreiende Wort zu stellen haben.

Dies mag allzu leicht gesagt und also gefordert sein (zumal eben der „gnostische“ Umschlag in Verneinung, wenn nicht Verachtung droht). Statt solchen Einwand zu widersprechen, kann nur der ganze Gegenstand wenn nicht (womöglich noch in der fragwürdigen Erwartung seines gänzlichen Verschwindens) fallen gelassen, so selbst aufgenommen werden: nicht um es gleich „besser zu machen“, vielmehr die Reflexion nach Kräften voranzutreiben auf einem Gebiet, das – aktuell seinerseits hinter die Fassade eines „Kampfes der Kulturen“ geratend – doch vielleicht mehr als jedes andere für den inneren Zusammenhang von Erscheinungen einsteht, die (wenn überhaupt je) nicht weiter auf sich beruhen können, vielmehr neu verantwortet sein wollen.

Nach alledem scheint es, sozusagen um „Gott und der Welt“ (wie ja der Menschen ohnehin) willen, wichtig und heilsam, auch zwischen „Fundamentalkritik“ und gleichgültigem Desinteresse sowohl das Grundanliegen von Religion nicht überhaupt in Abrede zu stellen, als auch ihre vielfältigen „Inhalte“ in ihrer Vieldeutigkeit dort aufzunehmen, wo es eben nicht um den „wahren Glauben“ geht (der sich mit dem reformatorischen Grundansatz aller Konkurrenz nur entziehen kann, sich schlechthin gegen alle „theologia naturalis“, katholische Zusammenschau, damit aber doch wohl auch nur schwerlich als konstruktiv bemühte Neuschöpfung im „subjektiven“ Interesse behauptet und gewinnt), sondern um Welt- und Menschenkenntnis.

Es bliebe gerade so der Zusammenhang der Fragen gewahrt und zu wahren: in welchem schließlich solches Verstehen der menschlichen Angelegenheiten in jenen offenen Horizont eingestellt wird, der sich ebenso durch immer ganz unterschiedliche Hinsicht bestimmt, wie er andererseits die Frage nach dem Fluchtpunkt aufwirft, in dem er gehalten ist. Wissenschaftlich läßt sich allemal auch hierzu immer nur in aufrecht erhaltener Distanz sprechen. Der „Pluralismus“ quasi natürlicher Anschauungen ist dann so wenig wie die Exklusivität eines als für sich wahrhaft zu erringenden Verständnisses in Abrede zu stellen, vielmehr noch wieder nach Kräften in Verbindung zu bringen.

Insoweit bleibt festzuhalten, daß es hier in einem doppelten Sinne um Selbstkritik zu tun ist: Gerade Religionskritik ist Kritik des menschlichen (und natürlich nicht eines „heiligen“) Geistes, der sein Bedürfen in den Himmel projiziert. Theologie aber übt ebenso als menschliche Rede Selbstkritik: nur im Namen einer (wie wir es juristisch und insofern hier schief ausdrücken gewohnt sind) „Instanz“ (als das Wort, das in der Tat von Gott seinen Ausgang nähme), die sich jener „Selbstverwirklichung“ entgegenstellt, welche bis in die Verheerungen antisemitischer Menschenvernichtung geführt hat. Daß damit nicht Humanität im Sinne eines menschlichen Maßes angegriffen werde, ist entscheidend. Allerdings: „Der Mensch“ ist nicht gut „das Maß aller Dinge“, solange er seine Verfügungsbefugnis nicht aus sich heraus zu begrenzen weiß.


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